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Title
Automobiles Österreich. 100 Jahre Automobilgeschichte in Bildern


Author(s)
Marschik, Matthias; Schütz, Edgar
Published
Extent
180 S.
Price
€ 37,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Carlo Moos, Historisches Seminar, Neuzeit, Universität Zürich

In der Geschichtswissenschaft ist in den letzten Jahrzehnten als Folge verschiedener Konzept- oder Paradigmenwechsel viel in Bewegung geraten. Als „cultural turns“ mit sprachlichen („linguistic turn“) oder bildlichen Ausprägungen im „visual“ oder „iconic turn“ haben sie zu anderen Fragestellungen und Inhalten sowie zu neuen methodischen Zugriffen geführt und etwa mit Hilfe von Bildern oder Fotografien instruktive Perspektiven eröffnet und (buchstäblich) neue Blicke auf populärkulturelle Themen ermöglicht wie hier seitens des Kulturwissenschaftlers Matthias Marschik und des Journalisten Edgar Schütz. Ihr Buch weitet einen unlängst erschienenen anderen Fotoband von Marschik (mit der Leiterin der Bilddokumentation der ÖNB Michaela Pfundner) zeitlich aus und „automobilisiert“ ihn thematisch; damals ging es um den Wiener Fotografen Lothar Rübelt und die Entwicklung einer eigenen Bildsprache in der seinerzeit neu entstehenden Bildreportage.1

Das „automobile Österreich“ dreht sich (auch, aber nicht nur) um die österreichische Geschichte der letzten 100 Jahre mit Blick auf das Automobil, von Sarajevo 1914 zu Hitler in Wien und Klagenfurt 1938 oder Kennedy und Chruschtschow ein Vierteljahrhundert später (S. 114) bis zu Jörg Haiders Todesfahrt vom Oktober 2008 (S. 121) oder den 2020 als bizarre Accessoires von Automobil-Rückspiegeln baumelnden Corona-Mund-Nasen-Schutzmasken (S. 182). Mit dem (Geschichts-)Bild-Weg verknüpfen sich aber vor allem nachhaltige Veränderungen von Ortsbildern und Städten, Landschaften (z.B. S. 37) und Lebensräumen sowie Staubwolken (S. 24), mit Schotter befestigte Straßen und auf Trottoirs verdrängte Fussgänger (S. 26) oder die 1965 abgerissene Wiedner Florianikirche (S. 46), dann Parkflächen, unterirdische Garagen und Autofriedhöfe (S. 75). In den Blick geraten auch enorme Wirtschaftsfaktoren mit einer frühen eigenständigen österreichischen Automobilproduktion und den später großen (1934 fusionierten) Steyr, Daimler, Puch sowie einer bedeutenden Zuliefererindustrie, alles verbunden mit einer Vielzahl neuer Berufe, anderen Sittenbildern, verändertem Alltags-Verhalten und (allerdings traditionellen) Männlichkeitsvorstellungen, sodann mit zeitlicher Beschleunigung, Häufung von Unfällen und insbesondere zunehmender Umweltbelastung. Zwar war das Automobil primär etwas für Reiche, während die Mobilisierung der Massen erst ab den 1950ern erfolgte, etwa mit dem VW-„Käfer“ sowie in Autobuslinien, Autoreisezügen und beim Autostoppen (S. 72). Trotzdem blieb das Automobil ein Statusobjekt und wurde auf vielen Fotos (fast) zum Familienmitglied (vgl. Umschlag oder S. 144), während sich der Führerschein als Initiationsritus etablierte.

Besonders eingängig sind nicht nur jene Bilder, die im Rückblick zentral gewordene Themen illustrieren wie das Sarajewo-Attentats-Auto, sondern scheinbar private wie den Unfalltod der Gattin des Kanzlers Kurt Schuschnigg auf der Reise in die Sommerferien 1935 (S. 99) oder die mit ihrem Scheitern auf tragische Weise mehr als unglücklich gewordene Volksbefragung drei Tage vor dem „Anschluss“ im März 1938: „Ja! Mit Schuschnigg für ein freies Österreich“, forderte ein auf die Rückseite eines Steyr-„Baby“ angeheftetes Plakat (S. 100); ihm steht das „JA für Hitler“ vom 10. April 1938 auf einem mit Hakenkreuzen garnierten Lieferwagen gegenüber (S. 103). Nach der Katastrophe prägten dann die Militärpatrouillen der „Vier im Jeep“ das Wiener Stadtbild der unmittelbaren Nachkriegszeit (S. 108)2, ebenso die für die Lebensmittellieferungen 1945 wichtigen Lastwagenkonvois, von denen einer von der legendären Antifaschistin Rosa Jochmann (1940–1945 im KZ Ravensbrück) in Empfang genommen wird (S. 110). Insofern illustriert der Band viel eindrücklich Alltägliches und zum Abschluss als Gegen-Thema noch eine problematisierende Anti-Opernball-Demo vom Februar 1989 unter dem Motto „Eat the rich!“ mit einem gekaperten Mercedes als Rammbock gegen die Polizeiabsperrung (S. 181).

Allgemein zeichnet sich der Band durch große thematische Breite aus, weiter durch seine problembewussten, kritischen Texte und eine stupende Vielseitigkeit in der Bild-Auswahl. Die Autoren komponieren nicht nur einen kunstvoll fotografischen Gang durch ein ganzes Jahrhundert, sondern illustrieren ihr Thema auch mit einladender Aufmachung und repräsentativen Bildern auf Umschlag, Vorsatz und Nachsatz des Buches. Und schon das erste „richtige“ Bild wirkt sofort emblematisch, indem es den 1959 mit Autos regelrecht vollgestopften Parkplatz von Wiens Innerem Burghof zeigt: eine Touristenattraktion par excellence!

Störend erscheint dem Rezensenten nur gerade die Überschrift des letzten Band-Themas („... in Kunst und Kultur“), weil er unter diesem Titel eher eine künstlerische Auseinandersetzung mit Automobilen erwartet hätte, während es vornehmlich um Kultobjekte von Jet-Set-Promis und anderen Eitelkeits-Zeugen wie Herbert von Karajan geht. Doch vielleicht ist er einfach „hochkulturell“ zu verbildet, weshalb ihn Udo Jürgens oder Toni Sailer nicht sonderlich interessieren, während Bertolt Brechts gegen einen Baum gefahrener Steyr 630 (S. 167) erheblich besser passt.

Anmerkungen:
1 Matthias Marschik / Michaela Pfundner, Wiener Bilder. Fotografien von Lothar Rübelt, Schleinbach 2020, S. 11.
2 Die „Vier“ zeigen sich 1950 auch im gleichnamigen Spielfilm von Leopold Lindtberg.

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